In Berlin sind mehr als 700.000 Einwohner*innen bei der Wahl vom Abgeordnetenhaus und bei Volksentscheiden ausgeschlossen, nur weil das Berliner Wahlrecht an die Staatsangehörigkeit geknüpft ist. Das Berliner Bündnis „Wahlrecht für Alle“ macht seit 2011 auf diese Ungerechtigkeit aufmerksam und setzt sich für die politische Teilhabe aller Berliner*innen jenseits der Staatsbürgerschaft ein. Deshalb fordern wir das regionale und nationale Wahlrecht für EU-Bürger*innen und Drittstaatsangehörige* sowie das lokale und kommunale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige.
“„Eine Person, die aus München, Halle oder Rostock kommt, darf nach drei Monaten in der Stadt schon für das Abgeordnetenhaus wählen. Ich lebe hier seit 2006 und darf es immer noch nicht. Dann frage ich mich: inwieweit ist diese Person mehr Berlinerin als ich?“, empört sich Séverine Lenglet, die aus Frankreich kommt und sich für das Bündnis „Wahlrecht für Alle“ engagiert.
Fast ein Fünftel der Berliner*innen sind Ausländer*innen. Viele von ihnen leben seit fünf, zehn, 20 oder mehr Jahren in Berlin. Sie sind entweder hier groß geworden, studieren oder arbeiten, zahlen Steuern und leben mit ihren Familien hier. Sie sind Mitglieder von Sport- und Kulturvereinen, verfügen über ein soziales Netzwerk und einen Freundeskreis in der Stadt. Die Hauptstadt ist ihr Zuhause.
Allerdings werden sie im Land Berlin als „Bürger*innen zweiter Klasse“ behandelt. Sie dürfen ihre Stimme nicht abgeben, wenn es zum Beispiel um Bildung, Energie, Miete, Nahverkehr, Bauprojekte oder die Polizei geht. Das betrifft sowohl das Abgeordnetenhaus als auch alle Volksentscheide, wie z. B. zum Tempelhofer Feld, zur Miete oder zum Wasser in Berlin.
Die EU-Staatsangehörigen dürfen zwar bei den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) wählen, aber nicht an Volksentscheiden oder der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus teilnehmen, welches das Leben der Berliner*innen gesetzlich gestaltet. Drittstaatsangehörige dürfen nicht mal auf lokaler Ebene wählen. Verglichen zu anderen EU-Ländern hängen Berlin und Deutschland mit ihrem Demokratieverständnis deutlich hinterher. In 15 EU-Ländern ist das Ausländer*innenwahlrecht bereits etabliert.
2011 initiierte Citizens For Europe das Bündnis „Wahlrecht für Alle“, ein Netzwerk von Berliner Vereinen, Nachbarschaftshäusern, Gewerkschaften, Verbänden und Berliner Politiker*innen. Mit symbolischen Wahlen, Straßenaktionen, Gesprächen mit Kandidat*innen, Infografiken, Medienkooperation und Pressearbeit hat das Bündnis sowohl in der Politik als auch bei der Berliner Bevölkerung das Bewusstsein für den Ausschluss von mehr als 700.000 Berliner*innen bei Volksentscheiden und Wahlen zum Abgeordnetenhaus geschärft. Bei der Protestaktion auf dem Tempelhofer Feld im Jahr 2014 unterschrieben die Fraktionsvorsitzenden der jetzigen Regierungsparteien die Forderung des Bündnisses: das Wahlrecht für alle hier sesshaften Ausländer*innen für die Landesebene einzufügen.
2016 führten die gewählten Parteien – SPD, Die Linke und Bündnis90/Die Grünen – in ihrer Koalitionsvereinbarung den folgenden Absatz ein: „Die Koalition wird eine Bundesratsinitiative zur Änderung des Grundgesetzes ergreifen, mit dem Ziel für EU-Bürger*innen und Drittstaatler*innen das Wahlrecht auf Landesebene sowie für die Drittstaatler*innen das kommunale Wahlrecht zu ermöglichen. Für Drittstaatler*innen soll dabei eine angemessene Mindestaufenthaltsdauer erforderlich sein.“
Die zahlreichen Aktionen, Veranstaltungen und Kampagnen des Bündnisses „Wahlrecht für Alle“ haben zu diesem Erfolg maßgeblich beigetragen. Dennoch sehen wir auch ein Risiko: Die Bundesratsinitiative könnte eine Einbahnstraße sein, die aufgrund fehlender politischer Einigung zwischen den Ländern dazu führt, dass das Thema eines inklusiven Wahlrechts für kommende Jahre auf Eis gelegt wird, auch im Land Berlin. Dabei hat das Land Berlin die Möglichkeit, für EU-Bürger*innen und Drittstaatler*innen das Wahlrecht auf Landesebene sowie für die Drittstaatler*innen das kommunale Wahlrecht in Berlin einzuführen.
Bis jetzt verstecken sich Politiker*innen zumeist hinter dem Eindruck, dass das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ein Ausländer*innenwahlrecht nicht erlaube. Sie beziehen sich dabei sowohl auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerG) zum Fall Schleswig-Holstein 1990 als auch auf das Urteil des Bremer Staatsgerichtshofes vom Frühjahr 2014. Beide Institutionen beriefen sich bei ihren Urteilsfindungen auf Artikel 20,2 des Grundgesetzes, wo es heißt „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ und haben in ihren Urteilen fataler- und falscherweise eigenmächtig den Begriff Volk auf das Nationalkonstrukt „deutsches Volk” begrenzt. In dem Artikel 20,2 wird aber explizit nicht vom „deutschen“ Volk gesprochen, da hier das demokratische Prinzip und nicht ein nationalstaatliches Prinzip zur Anwendung kommt. Entgegen der Idee der Verfassungsautor*innen eines inklusiven Demokratieverständnisses, sind beide Urteilssprüche stark ausgrenzend und nationalistisch.
Die Einführung des kommunalen Wahlrechts für EU-Staatsbürger*innen durch den EU-Maastricht-Vertrag 1992 erfolgte ebenfalls ohne Eingreifen durch das Bundesverfassungsgericht und ohne weitere Auseinandersetzung mit dem Begriff „Volk“ oder einer Grundgesetzänderung. Schon damals stellte das Bundesverfassungsgericht damit seine eigene Interpretation des Begriffes „Volk“ in Frage, mahnte jedoch die Gesetzgeber*innen an, eine große Übereinstimmung zwischen dem Wahlvolk und der Bevölkerung über die Einbürgerung herzustellen.
In der Tat werden Berliner*innen öfter mit dieser Argumentation konfrontiert: „Als Ausländer*innen, die hier wählen wollen, sollten sie sich einbürgern lassen.“ Dass das Wahlrecht in Deutschland auch heute noch nur in Verbindung mit der nationalen Staatsbürgerschaft ausgeführt werden kann, ist rückwärts gerichtet, denn es geht nicht um Nationalität oder Loyalität, sondern einfach um das demokratische Grundrecht schlechthin. Gerade für die Europäische Union, in der die Menschen sich frei bewegen und ihren Wohnsitz frei wählen können, ist die Knüpfung des Wahlrechts an eine nationale Staatsbürgerschaft sinnfrei und reduziert die mobilen Bürger*innen auf Konsum und Produktion.
Zudem ist für viele Drittstaatsangehörige eine doppelte Staatsangehörigkeit aufgrund von Bestimmungen des „Herkunftslandes“ nicht möglich. Sie müssen ihre erste Staatsbürgerschaft aufgeben. Dieser Weg zum Wahlrecht entspricht einfach nicht der Realität und der Vielfalt-Komplexität des Lebens von Millionen Menschen in Deutschland. „Ich musste meine chinesische Staatsangehörigkeit aufgeben und soll jetzt ein Visum beantragen, um meine Familie zu besuchen, um das Land, in dem ich groß geworden bin, zu besuchen. Würden Sie es selber wollen?“, hinterfragt Wei Wei, Buchautorin. „Ich habe eine emotionelle Verbindung mit dem Land, in dem ich geboren bin, in dem meine Eltern leben. Das ist nicht so einfach seine Staatsangehörigkeit aufzugeben und das hat mit Loyalität gegenüber Deutschland nichts zu tun. Außerdem kann es beim Erbrecht kompliziert werden.“
Ein weiteres Gegenargument: die Einbürgerung ist mit dem Einkommen verbunden. Eine Voraussetzung ist „die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts (auch für unterhaltsberechtigte Familienangehörige) ohne Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II“. Das heißt, wenn man das Wahlrecht mit der Einbürgerung verknüpft, verknüpft man das Wahlrecht mittelbar mit dem Einkommen. Wer wenig Geld verdient, darf also nicht teilhaben – ein Zustand wie im feudalen Europa.
In manchen Ländern ist das Wahlrecht gar nicht an die Staatsbürgerschaft geknüpft: In Neuseeland zum Beispiel darf man sogar als Nicht-Staatsbürger*in bei nationalen Parlamentswahlen abstimmen – wenn man seit zwei Jahren im Land lebt und eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis hat. So sollte eine moderne und inklusive Demokratie aussehen.
Während viele in Deutschland argumentieren, das Grundgesetz müsse geändert werden, liegt es jedoch lediglich an der Interpretation des Volksbegriffes durch das BVerG. Viele Expert*innen argumentieren, dass sich mit der neuen Besetzung des BVerG auch dessen Demokratie- und Volksverständnis modernisiert habe und vor allem die rechtlichen Rahmen von EU-Verträgen und OECD- und UN-Konventionen längst ein Ausländer*innenwahlrecht einfordern.
Es braucht damit lediglich nur einen Fall, der vor das BVerG gebracht werden muss, damit eine inklusivere Neuinterpretation des Begriffes Volks gesprochen wird und das Ausländer*innenwahlrecht Realität wird. Es braucht keine Verfassungsänderung, keine 2/3 Mehrheiten, sondern nur den politischen Willen und Mut! Für diese Neuinterpretation braucht es einen Fall vor dem BverG, Berlin kann diesen vorbringen und damit Vorreiter in Deutschland hin zu einer inklusiven Demokratie sein.
*Drittstaatsangehörige: eine Person, die nicht Staatsangehöriger eines der Mitgliedstaaten der EU ist